Der Londoner Yotam Ottolenghi ist einer der bekanntesten Köche weltweit. Allein in Deutschland hat er über 1,5 Millionen Kochbücher verkauft. Sein Markenzeichen – von Israel und Palästina inspirierte Gemüseküche mit viel Würze und ungewöhnlichen Aromen. Dank ihm sind Granatapfel, Kichererbsen und Kreuzkümmel in Nordeuropa salonfähig geworden.
Im Dokumentarfilm „Ottolenghi und die Versuchungen von Versailles“, der seit Donnerstag in den deutschen Kinos läuft, startet der Koch ein kulinarisches Abenteuer, das spannend und vielschichtig ist. Zum Sattsehen!
Ein Wackelpudding, blau, in Form eines Schlosses mit Türmchen. Eine mehrstöckige Torte, außen mit Blüten und Ranken dekoriert, die an üppigen Deckenstuck in einem Ballsaal erinnern. Innen, bunt und vielschichtig. Ein Schwan aus weißer Schokolade, der mit den Flügeln schlägt. Das alles sind die Versuchungen von Versailles, die Yotam Ottolenghi für eine opulente Gala kreieren ließ. Und dabei von einem Filmteam begleitet wurde.
Es ist 2018 und das New Yorker Metropolitan Museum of Art veranstaltet eine große Sonderausstellung über das berühmteste Schloss der Welt – Versailles. Neben prachtvollen Exponaten will das Met ein Event organisieren, das die luxuriösen kulinarischen Ausschweifungen am Hofe des Sonnenkönigs Ludwig des Vierzehnten zum Thema hat. Es soll dabei um Desserts gehen und Yotam Ottolenghi soll es richten. Für die meisten Menschen vielleicht eine überraschende Wahl, denn was hat schon ein israelisch-britischer Koch mit der französischen Backkunst des 18. Jahrhundert zu tun? Mehr als man denkt. Denn Yotam Ottolenghi ist gelernter Patissier, Meister für Süßspeisen und Torten. Aber auch ein studierter Philosoph.
„Technologische Errungenschaften hatten ihren höchsten Ausdruck in Versailles gefunden, vor allem in der Patisserie,“ schwärmt Ottolenghi in eienr Szene: „Sie hatten alles – Schaumgebäck, Mandeln, sie nutzten Rosenwasser und Orangenwasser. Sie konnten Tausende Dinge machen, die heute zu Grundkenntnissen der Patissiers gehören.„
Der Dokumentarfilm „Ottolenghi und die Versuchungen von Versailles“ erzählt viele Geschichten. Zum einen, die des spektakulären Events in New York. Zum anderen, die des Schlosses Versailles. Vor allem aber die Lebensgeschichte des Kult-Kochs. Ottolenghi stammt aus einer akademischen Familie in Jerusalem. In der Londoner Gastronomie war er ein Quereinsteiger. Berührend ehrlich erzählt der 52jährige, wie schwierig seine Anfänge in der Küche waren. Wie unwohl er, ein schwuler Mann, sich bei den in vielen Küchen üblichen Macho-Allüren fühlte. Der Film zeigt aber auch einen Ottolenghi, der ein weltoffener Koch ist und das Essen immer im Kontext sieht. Ein Rezept, sagt er, ist nicht gut ohne seine Geschichte.
In der Dokumentation trommelt Ottolenghi für sein Event, wie einst Danny Ocean im Film Ocean´s Eleven, ein Team von Profis zusammen. Da ist eine experimentelle Food-Künstlerin aus Singapur und eine Zwei-Sterne-Konditorin aus New York, die im ersten Beruf Balletttänzerin war. Da ist eine junge Ukrainerin, die Torten backt, die wie futuristische Gebäude aussehen und aus einem Kriegsgebiet stammt. Die Kamera dokumentiert eine faszinierende High-Tech-Patisserie. Als der Film seinen Höhepunkt erreicht und die geladenen Gäste das kunstvolle Buffet stürmen, kippt aber die Stimmung. Yotam Ottolenghi besinnt sich auf die Geschichte der dekadenten kulinarischen Eskapaden von Versailles. An eine Zeit, die die Kluft zwischen dem Hof und dem Bürgertum immer tiefer riss und in der Französischen Revolution endete.
Ob dieser abrupte Themenwechsel geschickt oder ungelenk ist – das kann man nicht eindeutig sagen. Für Ottolenghi bedeutet jedenfalls die Erfahrung mit der zügellosen lukullischen Dekadenz die Rückbesinnung auf die einfacheren kulinarischen Freuden.
„Ottolenghi und die Verführungen von Versailles“ zeigt, dass moderne Patisserie eine hohe Kunst ist. Und bietet einen unterhaltsamen Exkurs in die Geschichte der französischen Küche. Appetit auf Süßes bekommt man danach nicht unbedingt. Aber an den schönen Bildern kann man sich auf jeden Fall sattsehen.
Die Filmrezension wurde im Radio Cosmo am 23.10.2021 ausgestrahlt.