Menschen, die das Akkordeon schätzen oder selber spielen, erzählen gerne mal, dass es 1920 im Deutschen Reich mehr Akkordeon-Vereine als Fußballclubs gab. Diese Zeiten sind zwar vorbei, aber das Akkordeon hat es inzwischen in die renommiertesten Konzertsäle geschafft. Bestes Beispiel dafür – das Akkordeon-Festival Pantonale, das am 24. Juni 2024 in Berlin mit einer Gala im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie zu Ende ging.
Mit von der Partie waren gestandene Weltstars und junge Virtuosen wie Radu Ratoi. Er hat vor allem ein Faible für Liszt: „Ich habe neun Jahre lang Klavier gespielt, also kann ich vergleichen und sagen, dass man beim Akkordeon einfach die Pedale hinzunehmen muss. Man muss also immer darüber nachdenken, wie Liszt es für Akkordeon schreiben würde.„
Radu Ratoi ist 25, kommt aus Moldawien und studiert zurzeit am Konservatorium in Kopenhagen. Im Herbst 2023 hat er als erster Akkordeonist überhaupt den renommierten Musikpreis der Societa Umanitaria in Mailand gewonnen. Ein internationaler Wettbewerb, bei dem alle Musikinstrumente gegeneinander antreten. Seitdem ist Radu Ratoi ein Shootingstar der Akkordeon-Szene. Bei der Abschlussgala des Festivals Pantonale in der Berliner Philharmonie ist er an der Uraufführung eines neuen Werks für Akkordeon und Orchester beteiligt. Für den jungen Musiker – das Allertollste.
„Eine große Herausforderung besteht darin, neue Techniken für das Akkordeon zu finden. Denn es handelt sich um ein neues Instrument, und ich denke immer wieder darüber nach, was wir noch hinzufügen können, wenn ich mit Komponisten zusammenarbeite. Es ist kein Instrument wie Klavier oder Geige, für die schon alles erfunden wurde, und es ist noch nicht abgeschlossen. Das Akkordeon ist noch nicht fertig.„
Seit inzwischen zehn Jahren versammelt Pantonale Stars der Akkordeon-Szene zu einem Festival in Berlin. Es endet mit einer Abschlussgala im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. Dieser Ort unterstreicht das programmatische Ziel des Festivals: Das Akkordeon als vollwertiges philharmonisches Instrument in den Mittelpunkt zu stellen. Für den Gründer von Pantonale, den Berliner Akkordeonlehrer Waldemar Fleischhauer, ist besonders wichtig: „dass es kein anderes Festival in ganzen Welt gibt, wo Akkordeon mit Kammerorchester volles Programm macht.„
Für viele Akkordeonisten, die klassische oder zeitgenössische Musik spielen, scheint es wichtig zu sein, in der Welt der sogenannten E-Musik ernst genommen zu werden. Selbst der baskische Akkordeonist Gorka Hermosa, der seit Jahren eine der prägenden Figuren im Akkordeon-Universum ist, hadert damit, dass sein Instrument auch zwei Hundert Jahre nach seiner Erfindung als ein Novize gilt: „Das Akkordeon hat keine so lange Tradition. Und wir haben immer diese Angst, nicht auf dem gleichen Niveau zu sein wie die anderen Musiker. Das ist für mich die Herausforderung.„
Gorka Hermosa hat wie die meisten Akkordeonisten als Folk-Musiker angefangen, ist mit Paco de Lucia aufgetreten, hat Fado und Jazz gespielt und positioniert sich nun als Interpret und Komponist zwischen den Genres. „Es stimmt schon, dass wir mit dem Akkordeon viele Dinge auf vielfältige Weise spielen können. Es ist ein harmonisches Instrument, wie das Klavier. Aber wir haben auch Bälge, die uns Ausdruck verleihen und viel Kraft geben. Die Herausforderung ist, wenn man alles machen kann, nur eine Aufgabe zu erfüllen, diese aber besonders schön. Auf einer Flöte zum Beispiel kann man nur eine Melodie spielen, aber die Flöte ist eben nur dafür gedacht. Oder ein Kontrabass. Wir haben tiefe Töne. (spielt vor) Aber die Herausforderung besteht darin, tiefe Töne auf dem Niveau eines Kontrabasses zu spielen. Also, nochmal, ja, wir können alles spielen, nachspielen, aber es ist sehr schwierig, alles auf dem Niveau aller Instrumente zu spielen, die für bestimmte Aufgaben gemacht wurden.„
Ganz anders geht das serbische Duo Dragana Gajic und Marko Ševarlić mit den Eigenarten des Akkordeons um. Er spielt Knopfakkordeon, sie – Bratsche.
„Das Akkordeon ist wie eine kleine Orgel“, sagt Dragana Gajic: „Ich spüre mich von Akkordeon, könnte man sagen, überfordert, weil es klingt sehr groß, sehr groß. Ein Streichinstrument dagegen hat eine viel engere Projektion. Daher, erst wenn man einfach ein paar Schritten weggeht, entsteht der wirkliche Zusammenklang.“
Bei der Pantonale 24 präsentiert das Ehepaar die Uraufführung der Suite für Viola und Akkordeon „Boško and Admira, Romeo und Julia aus Sarajewo“. Marko Ševarlić: „Es hat eine unglaubliche poetische Kraft in sich, wenn man mit einem lebenden Komponisten an einem neuen Werk arbeitet. Man schafft etwas jetzt und heute für diese Akkordeonkultur, aber Akkordeonkultur gehört ja zu Musik und Musikgeschichte und es hat einen anderen fast geistigen Touch.“
Knapp die Hälfte des Programms der Abschlussgala des Pantonale-Festivals sind dieses Jahr Uraufführungen. Ist die philharmonische Welt also endlich reif für Akkordeon? Radu Ratoi zeigt sich träumerisch: „Die meiste Originalmusik für Akkordeon ist zeitgenössisch, geschrieben nach 1950. Wie so oft bei neuer Musik für verschiedene Instrumente ist natürlich auch hier nicht alles gleich gut. Aber wir sollen alles spielen und eine Art Filter für die Geschichte sein. Vielleicht wird das Akkordeon in 100 Jahren auf großen Bühnen immer präsent sein und zeitgenössische oder dann alte Musik spielen, die heute noch zeitgenössisch ist.„
Der Beitrag wurde ausgestrahlt in der Sendung Tonart, WDR 3, am 27. Mai 2024.